In memoriam Wolfgang Bauer
Lassen wir kurz die Gedanken zu Romeo und Julia schweifen und stellen uns exemplarisch eine Szene vor mit den beiden, vielleicht nicht gleich unmittelbar die dramatische Szene, wo die beiden sterben (oder auch nicht), sondern noch davor. Welches Bild entsteht vor unserem inneren Auge?
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Oder man probiert sich genau das Gegenteil von dem vorzustellen was einem als erstes in den Sinn kommt. Diese Methode kann ein super Hilfsmittel für einen erfolgreichen kreativen Prozess sein. Jacob Collier spricht darüber im Bezug auf das Komponieren von Musik in einem seiner Live-Streams. Es scheint mir als hätte sich der grazer Schriftsteller Wolfgang Bauer (* 1941; † 2005) ebenfalls mit diesem Instrument geübt, er schreibt:
Ein Stadion. Es ist brechvoll. 150 000 begeisterte Zuschauer. In der Mitte des Spielfeldes steht ein Billiardtisch. Auf ihm sitzen (entkleidet) Romeo und Julia. Sie sehen trüb drein. Jeder hält ein Fischskelett in der Hand und spielt damit herum. Manchmal tauschen sie, dann toben die Zuschauer.
Romeo:
Gib du mir jetzt deines.
Julia:
Gern. Und du gibst mir dafür deines.
Ein Zuschauer:
Da capo!
Ich reise einmal ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit zurück und blicke an einem sonnigen Samstagnachmittag vom Balkon unserer Wohnung im Grazer Herz-Jesu-Viertel in den Innenhof hinunter: dann wäre da jetzt keine Baustelle am Haus nebenan (die Baustelle schaut selbst für eine Baustelle sehr unordentlich aus, auch am verlängerten Wochenende), sondern ich sähe dort den Gastgarten des legendären Gasthauses Braun de Praun, das Gasthaus mit der vormals längsten warmen Küche in Graz (bis weit nach Mitternacht), noch dazu mit der, so sagte man sich, drittgrößten Speisekarte von ganz Österreich mit mehr als 300 Gerichten. Der große Nussbaum, der im Sommer den Gästen viel Schatten spendete wäre noch da, der Zwetschgenbaum im angrenzenden Innenhof höchstwahrscheinlich auch, oder er wäre noch gar nicht gesetzt. Unter den Besuchern des Biergartens, mit seinen charakteristischen Klappstühlen mit Rahmen aus rostfreien Stahl und einer Sitzfläche (samt Lehne) aus rosa Plastik — einer dieser Sessel hat den Weg auf den Balkon meiner WG gefunden, eine Vormieterin hatte ihn entwendet, während sie dort gekellnert hatte; deswegen habe ich die Sessel gerade auch noch so präzise vor Augen —, also unter den Besuchern wäre in diesem Moment vielleicht auch der Wolfi Bauer, welcher bei den Wirten unseres Grätzls wahrlich kein Unbekannter war. Womöglich denkt er sich dort gerade, während er auf sein Schnitzel wartet, die obigen Zeilen aus und trinkt sein Bier.
Im hier und jetzt jedenfalls sitzen wir in meinem Zimmer, nackt. Würde man sich hier etwas aus dem Fenster strecken, hätte man fast den gleichen Blick, wie vom Balkon aus. Ich versuche zu komponieren, die Frau neben mir versucht zu schreiben. Wir tauschen Blicke und so manche Frage, welche man im Grunde nicht besser beantworten kann, als die andere Person, die sie stellt. In den Zeiten dazwischen habe ich mir vorgenommen es auszuprobieren: für jeden folgenden Schritt in meiner Arbeit genau das zu tun, was ich für am wenigsten wahrscheinlich halte. Jedoch laboriere ich am Lärm der Baustelle, und gehe gleich mal lieber in die Küche noch einen Kaffee kochen. Auf das da capo des Presslufthammers ist jedenfalls Verlass.
der obige zitierte ausschnitt ist aus dem ersten bild des mikrodramas Romeo und Julia, veröffentlicht 1964 unter mikrodramen in der reihe 'schritte' für moderne und avantgardistische literatur im fietkau verlag berlin. das ganze heft kostete damals dm 2,80, im abonnement nur dm 2,50.
Nachtrag:
Ich wurde darauf hingewiesen, dass es für diese Methode einen Fachbegriff gibt: perspective by incongruity bzw. planned incongruity, je nachdem von wessen Seite man es betrachtet, vom Empfänger oder vom Akteur aus. Der Begriff scheint vor allem in den Sozialwissenschaften gebräuchlich zu sein.
Leider findet es scheinbar auch in der Politik Verwendung. Am 12. Mai wurde Bundeskanzler Sebastian Kurz in der ZiB 2 von Armin Wolf zu den Ermittlungen wegen Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss befragt. Wolf zähle ich zu den kritischsten und vor allem geschicktesten Interviewern im öffentlichen Rundfunk in Österreich. Für Kurz war es wohl das heikelste Interview seiner ganzen Karriere. Wolf spitzt seine Fragen nach und nach im Verlauf des Interviews zu und lässt nicht locker bezüglich Kurzs Befragung im Untersuchungsausschuss. Gegen Ende des Interviews reagiert Kurz darauf völlig überraschend mit Schmeicheleien und Komplimenten gegenüber Wolf (Minute 30). Wolf lässt sich dadurch aber nicht aus der Fassung bringen und packt direkt im Anschluss seine Joker-Frage aus.